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(nach Leo Tolstoi) Vor
vielen Jahren, da lebte in einem kleinen Dorf im weiten Russland ein Schuhmacher.
Er hieß Martin. Aber niemand im Dorf nannte ihn einfach Martin, auch
nicht Herr Martin oder Schuster Martin. Wenn er ins Dorf ging, grüßten
ihn die Leute: "Guten Tag , Vater Martin", denn alle hatten ihn gern.
Es gab genügend Leute, die Schuhe brauchten oder alte repariert haben wollten, so dass Vater Martin immer alle Hände voll zu tun hatte. Vater Martin war immer fröhlich - oder doch fast immer. Seine Augen zwinkerten dann verschmitzt hinter der kleinen runden Brille. Er sang und pfiff den ganzen Tag bei der Arbeit vor sich hin und grüßte fröhlich die Menschen, die an seine, Fenster vorübergingen. Aber einmal war alles anders. Es war Heiligabend
und Vater Martin stand traurig am Fenster. Er dachte an seine Frau, die
vor vielen Jahren gestorben war, und an seine Söhne und Töchter.
Sie waren längst erwachsen und fortgezogen. An diesem Tag feierten
sie alle zu Hause bei ihren Familien. Nur Vater Martin war ganz allein.
Ganz langsam las er die Weihnachtsgeschichte. Er las von Maria und Josef und von Jesus, der in einem Stall geboren wurde. "Kinder, Kinder", murmelte Vater Martin und kratzte sich am Kopf. "Wenn sie zu mir gekommen wären dann hätten sie in meinem guten Bett schlafen können. Ich hätte den kleinen Jungen mit meiner warmen Decke zugedeckt. Wie schön wäre es, an Weihnachten Besuch zu bekommen, und erst mit einem kleinen Kind!" Draußen kroch der Nebel ums Haus. Vater Martin musste die Lampe heller drehen. Er stand auf und schürte das Feuer im Ofen. Dann goss er sich eine Tasse Tee ein und las weiter. Und er las von den drei Königen die durch die Wüste kamen und kostbare Geschenke brachten.. "Kinder, Kinder !" seufzte Vater Martin, "Wenn Jesus zu mir gekommen wäre, hätte ich gar nichts für ihn gehabt." Doch dann lächelte er und seine Augen funkelten hinter der kleinen runden Brille. Er stand auf und ging zu einem Regal. Oben stand eine staubige Schachtel, die fest verschnürt war. Er öffnete sie und holte ein Paar winzige Schuhe daraus hervor. Vater Martin betrachtete die kleinen kostbaren Schuhe liebevoll. Es waren die schönsten Schuhe, die er jemals gemacht hatte; und die ersten Schuhe seiner Kinder. "Die kleinen Schuhe hätte ich ihm gegeben". Sorgfältig packte er sie wieder ein und las weiter und nach einer Weile schlief er über dem Buch ein. Draußen wurden die Nebelschwaden immer dichter. Wie Schatten huschten sie an seinem Fenster vorüber. Aber Vater Martin schlief fest und schnarchte leise. Plötzlich hörte er deutlich eine Stimme: "Vater Martin!" Der alte Mann sprang auf .Sein grauer Schnurrbart zitterte. "Wer ist da?" rief er. Ohne Brille, die ihm beim Schlafen runter gerutscht war konnte er nur schlecht sehen, aber im Zimmer schien niemand zu sein. "Vater Martin!" hörte er wieder die Stimme." Du hast dir gewünscht dass ich dich besuche. Achte morgen auf die Straße. Denn morgen werde ich zu dir kommen. Aber pass genau auf, damit du mich erkennst; denn ich sage dir nicht, wer ich bin." Dann war alles wieder still. Vater Martin
rieb sich die Augen. Das Feuer im Ofen war aus und die Lampe war verloschen.
Draußen hörte er von überallher Glocken läuten: Heute
war ja Weihnachten!
Vater Martin ging in dieser Nacht nicht
mehr ins Bett. Dazu war er viel zu aufgeregt. Er saß in seinem
Lehnstuhl, schaute immer wieder aus dem Fenster und beobachtet aufmerksam
die ersten Leute, die am frühen Morgen an seinem Haus vorbei gingen.
Vater Martin kochte sich einen Tee und ließ dabei das Fenster nicht
aus den Augen. Endlich tauchte am Ende der kleinen Gasse ein Mann auf.
Gespannt schaute Vater Martin aus dem Fenster. War es Jesus? Doch als der
Mann näher kam, trat Vater Martin enttäuscht zurück. Es
war der alte Straßenkehrer, der jede Woche mit einem Reisigbesen
die Straße fegte. Vater Martin ärgerte sich ein wenig. Schließlich
hatte er Besseres zu tun, als nach einem alten Straßenkehrer Ausschau
zu halten. Er wartete doch auf den König Jesus. Enttäuscht wandte
er sich von dem Fenster ab. Er wartete, bis der alte Mann vorrübergegangen
sein musste, und schaute wieder nach draußen.
Vater Martin folgte ihm bis zur Tür
und winkte ihm nach. Eine blasse Wintersonne stand nun am Himmel. Ihre
Strahlen gaben gerade so viel Wärme, dass auf den Pflastersteinen
und an der Fensterscheibe das Eis zu tauen begann. Jetzt waren noch mehr
Leute unterwegs. Viele nickten Vater Martin und wünschten Frohe Weihnachten.
Vater Martin nickte und lächelte zurück, aber Lust zu einem Schwätzchen
hatte er nicht. Er wartetet auf einen anderen Gast..
Die Stunden vergingen. Vater Martin schaute sich jeden der Menschen genau an, die an seinem Fenster vorbei gingen. Aber Jesus war nicht dabei. Plötzlich bekam er Angst. Vielleicht war Jesus vorbeigegangen und er hatte ihn nicht erkannt. Vielleicht war er ganz schnell gegangen, gerade als Vater Martin für ein paar Sekunden nach dem Feuer oder der Suppe geschaut hatte ... Er rannte zur Tür. Draußen waren allerlei Menschen unterwegs. Kinder, alte Männer und Frauen, Bettler, fröhliche und traurige Leute. Einige grüßte er mit einem Lächeln, andere nur mit einem Nicken. Aber Jesus war nicht dabei. Als es dunkel wurde und der graue Dezembernebel wieder durch die Straßen kroch, zündete der Schuster traurig seine Öllampe an und setzte sich in de Schaukelstuhl. Er nahm wieder das Buch zur Hand. Aber sein Herz war zu schwer und seine Augen zu müde, um die Worte zu entziffern. "Es war doch alles nur ein Traum", dachte er verzagt. "Und ich hatte mich so darauf gefreut, dass Jesus zu mir kommt." Tränen stiegen in seine Augen, so dass er kaum noch etwas sehen konnte. Doch plötzlich war ihm, als sei er
nicht mehr allein im Zimmer. Zogen da nicht Menschen durch die Werkstatt?
Vater Martin wischte sich die Tränen aus den Augen. Waren das nicht
der Straßenkehrer und die junge Frau mit ihrem Kind - all die Leute,
die er heute gesehen und gesprochen hatte? "Hast du mich nicht erkannt?
Hast du mich wirklich nicht erkannt, Vater Martin ?" , fragten sie im Vorbeigehen.
"Wer seid ihr?" rief der alte Schuster. "Sagt es mir!" Da hörte Vater
Martin dieselbe Stimme wie in der Nacht zuvor, obwohl er nicht hätte
sagen können, woher sie kam: "Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt
mit zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mit zu trinken
gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich
bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Wo immer du heute einem
Menschen geholfen hast, da hast du mir geholfen!"
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