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Autor: Rudi alias „Das letzte Einhorn?“ (Erbler Rudolf)
17.12.2005 / 17.12.2005
Die sprechende Weihnachtstanne
Vor einiger Zeit trug sich bei einem Bergbauernhof in verschneiter, märchenhafter Landschaft folgende Geschichte zu:

Im Hof des Bauernhofes wuchsen sechs schöne Tannen, zwei der Tannen waren ungefähr so alt wie die Bauersleute und die anderen waren erst zu einem späteren Zeitpunkt gepflanzt worden. In besagtem Jahr vor Weihnachten sollte die älteste Tanne gefällt werden, um den oberen Teil – den Wipfel - zu heilig Abend in die Stube als bunt geschmückten Weihnachtsbaum zu stellen. Der Rest der Tanne sollte zu Möbeln und Brennholz verarbeitet werden. So geschah es jedes Jahr zu Weihnachten. Aber die Bäume wurden meist aus dem angrenzenden Wald geholt.

Der Bauer hatte vier Kinder – zwei Mädchen und zwei Buben -, die gerne unter den sechs Tannen spielten. Als sie nun – zwei Wochen vor dem heiligen Abend – unter den sechs Tannen einen Schneemann bauten, nahmen sie plötzlich eine leise Stimme wahr. Vorerst konnten die Kinder die Herkunft der Stimme nicht feststellen und erst als sie lauter sprach, bemerkten die Kinder, wer zu ihnen sprach. Es war die älteste Tanne der sechs Tannen, die zu ihnen sprach: „Könntet ihr mich zu heilig Abend nicht draußen im Hof schmücken? Wenn ich als Weihnachtstanne gefällt werde, muss ich in ein paar Wochen sterben. Dabei spüre ich doch so gerne den Wind in meinen Zweigen und lausche den Vögeln und Tieren um uns. Außerdem bereitet es mir viel Freude, wenn ich unter mir spielt, singt und lacht. Und auch der Bauer genießt gerne meinen Schatten, während er seine Pfeife raucht oder über etwas nachdenkt. Ich bin ja auch sein Lebensbaum, obwohl er dies offenbar bereits vergessen hat.“ Die Kinder waren überrascht, dass die große Tanne sprechen konnte. Da sie aber aufgeweckte und neugierige Kinder waren, fanden sie bald ihr Fassung wieder und begannen eine interessantes Gespräch mit der Tanne. Sie erfuhren, dass diese Tanne eben eine besondere Tanne war – wie auch die anderen Tannen ihrer sechsköpfigen Familie. Sie waren noch persönlich von ihrem Großvater gepflanzt worden, der erst vor zwei Jahren kurz nach Weihnachten verstorben war. Jede der Tannen war zur Geburt eines Kindes gepflanzt worden. Die älteste Tanne war der Lebensbaum des Bauern. Die zweitälteste Tanne war der Lebensbaum der Schwester des Bauern, die nun mit einem Tischler im Tal verheiratet war. Der Lebensbaum der Bäuerin war übrigens eine Buche, die im Hof eines Bauern eine Tagesreise weiter stand. Seit vielen Jahrhunderten sei es üblich, dass die Väter für ihre neugeborenen Kinder Lebensbäume pflanzten. Und eigentlich sollten diese Bäume erst frühestens nach dem Tod des Besitzers der Lebensbäume gefällt werden, um als Möbelstücke oder Weihnachtsbäume noch einmal die letzte Ehre zu erhalten. So sei dies auch mit dem Baum ihres Großvaters geschehen, der ihr letzter Weihnachtsbaum gewesen sei. Der dicke untere Stamm stand übrigens jetzt als Spielzeugtruhe im Zimmer der beiden Mädchen.

Die vier Kinder versprachen der sprechenden Lebenstanne, ihren Vater zu überzeugen, dass sie für ihn wichtig war und unbedingt weiter wachsen müsse. Nun – ihr könnt euch sicher vorstellen, wie erfinderisch und hartnäckig Kinder sein können, wenn sie etwas erreichen wollten. Von diesem Abend an lagen sie ihrem Vater – dem Bauern dieses Bergbauernhofes – ständig in den Ohren. Sie wollten die Tanne unbedingt weiter im Hof stehen haben. Der Bauer meinte aber, er wolle heuer keine Tanne aus dem Wald als Weihnachtsbaum holen, da diese alle zu jung seien. Die Kinder aber ließen nicht locker. Sie versprachen sogar, den Baum im Hof persönlich mit Strohsternen, Äpfeln und Girlanden aus Stroh schmücken zu wollen. So leicht war der Bergbauer aber nicht zu überzeugen. Ein Bergbauer muss einen starken Willen und viel Ausdauer haben, sonst könnte er als Bergbauer nicht das Überleben seiner Familie sichern. Erst als ihn die Mutter – die Bergbäuerin – fragte, ob er sich erinnern könne, welche Bewandtnis es mit dieser Tanne hätte, wurde der Bauer nachdenklich. Dann erzählte er davon, wie sein  Vater – der Großvater der Kinder, welcher vor fast zwei Jahren gestorben war – bei der Geburt jedes Kindes einen sogenannten Lebensbaum gepflanzt hatte. Und er erinnerte sich nun, dass diese Tanne sein Lebensbaum sei. Ja der Bauer bemerkte jetzt, dass er eben unter dieser Tanne immer im Schatten lehnte oder saß, wenn er über irgendetwas nachdenken wollte oder einfach gemütlich seine Pfeife rauchte.

So kam es, dass damals zu Weihnachten erstmals an diesem Bergbauernhof, eine lebende Tanne im Freien als Weihnachtsbaum geschmückt wurde. Auch Kerzen wurden an ihren Zweigen angezündet und sie erstrahlte in einer verschneiten Märchenlandschaft unter einem zauberhaften Sternenhimmel nicht nur für die Bergbauernfamilie sondern auch für die vorbeiziehenden Wanderer, für die Familien der Nachbarschaft und die Tiere im Wald.
Dies war auch der Ursprung eines inzwischen weit verbreiteten Brauches, Bäume und Sträucher in Höfen, Gärten oder auf Plätzen inmitten von Städten und Dörfern zur Freude der Menschen zu schmücken.

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